Wässrig, mehlig, leicht geschmackslos. Viele Tomaten haben heute eine glatte Haut, eine perfekte Form und wenig Aroma. Umso interessanter, dass im Marschland an der Elbe auf dem Hof von Jörn Meyer historische Tomatensorten wachsen. Pflaumen, Birnen und ‘Würstchen’ hängen an den Pflanzen. Selbst Mortgagelifter (Hypothekentilger) gedeihen.
Autor Oliver Zelt, Fotos Oliver Zelt
Am Anfang war die Rechnung. Die Meyers hatten auf ihrem Familienhof nordwestlich von Hamburg mal wieder Gemüse an den Großhandel geliefert. Und jetzt stand es da schwarz auf weiß. „Transport und Verpackung waren teurer als der Erlös für die Tomaten“, erinnert sich Jörn Meyer.
Wenige Tage später sitzt Meyer Junior an einem Tisch im polnischen Krakow und beißt in eine Tomate. Großartig, dachte der Deutsche, „etwas Aromatischeres habe ich noch nie gegessen“. Flugs überredete das Nordlicht die Familie in Polen, ihm ein paar Samen der köstlichen Pflanze mitzugeben.
Nach der Bilanz mit dem Minus begeisterte sich Jörn Meyer nun nicht nur für die polnische Tomate sondern auch für Martina, Mr. Stripey und Matt’s Wild Cherry.
Meist bedeckt noch Schnee den Acker des Hofes, wenn Jörn Meyer von morgens bis abends Samen in die Erde bringt. Jedes Jahr sind es etwa zwanzig ‘neue alte’ Sorten. Ein Experiment für die Existenz. Die schwarze Pflaume floriert neben der roten Birne und der rosaroten, schlesischen Himbeere. Gleich nebenan bildet das Beefsteak ein Duo mit dem flaschenförmigen Grünen Würstchen. Und nicht etwa einsam nebenbei sprießt St. Pierre, die keinesfalls so schmeckt wie der gleichnamige Fisch.
Am Rande der Elbe, wo der Horizont höchstens durch einen Maulwurfshügel verdeckt wird, gedeihen in gigantischen Gewächshäusern jetzt weit über hundert Tomatensorten.
Grammleichte, pfundschwere, grüne, gelbe, orange, rote, blaue. Manche sind mehr als zweitausend Jahre alt. Alle treiben aus der norddeutschen Erde in der Blomesche Wildnis. Ein Flecken in der Nähe von Glückstadt mit mineralstoffreichem Marschboden. Deshalb, so ist sich Meyer sicher, strotzt das einjährige Kraut unter den Glaskuppeln vor Blüteneifer.
Zum Bestäuben der meist gelben Blüten fliegen Hummeln von Strauch zu Strauch. „Die fliegen nicht so weit weg wie Bienen“, freut sich Meyer.
Manche der jungfräulichen Blütenansätze sind für die fleißigen Insekten tabu. Kleine Teefilter-Tütchen schützen sie. Damit die sortenreine Saat im nächsten Jahr wieder die gleichen genialen Tomaten wachsen lässt. Was die Hummeln mit ihren Fühlern leisten, erledigt eine elektrische Zahnbürste in Meyers Hand.
Zweieinhalb Pfund bringt der Hypothekentilger auf die Waage und das ist kein Tomatenzüchterlatein!
Auf dem Holsteiner Hof wächst Gemüse mit Geschichte. Die wohl kurioseste Story ist die der runden roten Frucht „Mortgagelifter“ zu deutsch Hypothekentilger.
Der Autoschlosser Charlie Byles aus West Virginia züchtete Anfang der 30’er Jahre des letzten Jahrhunderts eine beeindruckend große Fleischtomate. Manche sprechen von bis zu zweieinhalb Pfund großen Kugeln, was durchaus kein Tomatenzüchterlatein ist. Jede der zarten Jungpflanzen bot der Farmer für die Summe von einem Dollar an – und bezahlte so die Schulden für seine Autowerkstatt früher als gedacht.
Einige Exoten und spezielle Sorten scheinen auch heute noch Geldvermehrungsgewächse zu sein. So bezahlte Jörn Meyer für ein einziges Korn der rot-dunkelgrünen „Zebrino“ stolze 1,20 Euro. Für die Pflaumen-Tomate „Zebra mini plum“ überwies er einem Züchter aus Israel 1 Dollar pro Samen. Die weltweite Gemeinde der Tomatenverrückten vereint sich dank weltumspannendem Internet in einem globalen Beet. Schnell sind Samen aus Südamerika, Sibirien und Slowenien im Briefkasten. Doch nicht immer die richtigen und so freute sich Jörn Meyer zu früh als er aus einem Beutelchen „San Marzano“, wohl die beste Aromatomate Siziliens in die Erde brachte. Gepflückt hat er dann „eine rote, runde völlig ohne Geschmack“.
Jörn Meyer ist so etwas wie der Noah der Tomatenarche. Wenn die Überlebenden dann tomatenreif an der Rispe hängen, freuen sich Vater Meyer und seine beiden Töchter Joke und Maruscha auf den Geschmackstest. Viele der Tomaten auf dem Meyerschen Gehöft haben ein bisschen weniger Glanz dafür mehr Gloria und Aromenpower. Wie eine Galerie der Meister abstrakter Kunst: Ausgestellt hat der Gärtner das rot gerillte Zahnrad, eine zackig rundfleischige Frucht zusammen mit der Pink Arcordeon, die tatsächlich aussieht wie ein schönes Schifferklavier. Die Menschen auf den Wochenmärkten schwärmen von der Sammlung aus gelben, grünen und gestreiften Tomaten. Wie früher im Bonbonladen stellen sie sich an Meyers Stand aus den verschiedenen Sorten ihre eigene Kollektion zusammen. Einige der Frauen, weiß der Blomesche Bauer, „freuen sich besonders darauf mit den bunten Tomaten die Küche zu dekorieren“.
Tomaten mit Geschmack
Jörn Meyer
Kremper Rhin 6
25348 Blomesche Wildnis
Tel: 04124-1655
www.tomatenmitgeschmack.de