Essen wie unsere Urahnen. Das ist ein Trend – selbst in der Spitzenküche. Die Paleo-Prinzipien sind für ihre Anhänger nicht Religion, sondern Rezept. „Wir wollen nicht die Steinzeit nachahmen“, sagt Leite-Poço vom Berliner Sauvage, Europas erstem Paleo-Restaurant. „Schließlich hat es die meisten Früchte und Gemüsesorten, die wir heute kennen, in der Steinzeit noch nicht gegeben.“Die Sauvage-Crew möchte „Gerichte erschaffen, die den modernen Gast ansprechen“.
Autor Oliver Zelt
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Der Steinzeitmensch würde seine Stirn runzeln. Das Menü auf der Speisekarte hätte er sich nicht einmal in seiner heimeligsten Höhle erträumt: “Wildenten Consommé”, “Filet vom Charolais-Rind mit Kokosnuss-Maniok-Püree, sautiertem wilden Brokkoli, Romanesco, Macadamia-Nuss-Streusel und Lakritz Jus”, “Gebackene Passionsfrucht-Creme an Orangen-Karotten-Ingwer Marmelade mit Litchi und Kokosnusskeks”.
Tausende Jahre später speisen die Nachfahren der Jäger und Sammler im Berliner Restaurant „Sauvage” vermeintlich wie ihre Urahnen. Die Gäste sind von Consommé, Charolais-Rind und Creme begeistert. Das „Sauvage“, zu deutsch „der Wilde“ ist mit erdig braun verputzen Wänden und Holzstühlen schlicht gehalten, serviert aber alles andere als schlichte Paleo-Kost.
Dabei kommt bei einem Paleo-Mahl nur das auf den Tisch, was unsere fellbeschürzten Vorfahren am Ende eines anstrengenden Tages wohl aßen. Die Jagdbeute der Männer, Fleisch und Fisch, Gemüse, Nüsse und Beeren legten die Frauen aufs offene Feuer und rösteten es für ein rustikales Abendmahl. Da die Jäger und Sammler keinen Ackerbau kannten, fehlen Getreide, Milch oder Zucker in den Küchenregalen des „Sauvage“.
Die Küche der Vorfahren zwingt die Köche zu ausgesuchten Zutaten. Marmoriertes Fleisch von Weidetieren, die der Bauer nicht zusätzlich mit Getreide füttert, Wild, das tatsächlich wild lebt, Fisch aus Wildfang. Bio-Gemüse, unbehandelte Nüsse, Samen und Kräuter. Essen von gestern braucht viel Zeit.
Die Paleo-Community ist „online super vernetzt“. Eine Quelle, um genau das Fleisch zu finden, das die Köche brauchen. Südlich der Hauptstadt in der Nutze-Nieplitz-Niederung weiden auf dem Ökohof „Degreif“ Salers-Rinder das ganze Jahr draußen. „Ein phantastisches Fleisch“, schwärmt Boris Leite-Poço, Chef im Restaurant.
Die Paleo-Prinzipien sind für ihre Anhänger meist nicht Religion sondern Rezept. „Wir wollen nicht die Steinzeit nachahmen“, sagt Leite-Poço. „Schließlich hat es die meisten Früchte und Gemüsesorten, die wir heute kennen, in der Steinzeit noch nicht gegeben.“Die Sauvage-Crew möchte „Gerichte erschaffen, die den modernen Gast ansprechen“. Dann sitzen die Köche in einer Runde, probieren, kosten exotische Früchte und arrangieren Fleisch und Gemüse und Fisch und Sauce zu einem Gericht in der richtigen Paleo-Philosophie. Das „Duett von Lammleber und Hirn, einer Lammlebermousse mit rohem Kakao und knuspriges Lammhirn auf einem würzigen Birnen-Sternanis-Pfeffer Kompott“ ist schon vom Namen her ein großer Spaß. „Wir kochen stets das ganze Tier“, sagt Leite. Mit dem Lammhirn „überzeugen wir unsere Gäste etwas zu essen, was sie sonst vielleicht nicht tun würden“. Selbst vom Gemüse „verwenden wir alles“. Also auch Blätter und Wurzeln für feine Spielereien und Fonds.
Die Steinzeit-Esser beschränken sich nicht nur aus guter Laune so dermaßen. Der Mensch und sein Körpersystem seien genetisch immer noch auf die Urzeit-Kost getrimmt. Brot und Milch könnten Frau und Mann von heute daher nur schlecht verarbeiten. Da nicken zahlreiche Allergiegeplagte, ob sie Laktose oder Gluten nicht vertragen, sicherlich heftig mit dem Kopf.
Die Paleo-Kost ist bereits zum modernen Lebensstil aufgestiegen. Die Jünger des Comebacks der Ur-Mahlzeiten bekennen sich zum „Cavemen Lifestyle“ oder sind Teil des „Paleo Movement“. Manche sprechen gar von Paleo-Diät und versprechen mehr Energie und ein stärkeres Immunsystem. Allerdings ist die prähistorische Prasserei so ziemlich das ganze Gegenteil davon, was wir bislang über gesundes Essen gelernt haben: wenig Kohlenhydrate und möglichst noch weniger Fleisch und Fett.
Die Frage bleibt: macht uns unser Lebensstil krank, weil wir zu viel davon essen, was die Lebensmittelindustrie als gut und günstig anpreist aber in Wahrheit höchstens gut und günstig für die Bilanzen der Industriemanager ist? Möglichst viel Zucker, Zusatzstoffe und allerlei Geschmacksverstärker lassen von der Ernte der Natur wenig übrig. Der Pott prähistorischer Kost ist deshalb auch so etwas wie ein Protest gegen die Branche, für die Lebensmittel nicht etwa die frische Frucht vom Feld oder das gut abgehangene Stück Fleisch ist.
Die Küche aus der Steinzeit fasziniert auch Sterneköche. Der Däne Thomas Rode Andersen, Chef im Kopenhagenern Restaurant “Kong Hans” präsentiert dort die einfach Küche der Vorfahren als moderne Kochphilosophie. Zu der gehört unbedingt, das Beste vom Besten zu besorgen.
„Wir essen schließlich das, was die Tiere essen“, sagt Andersen. Der Spitzenkoch ist selbst kein Dogmatiker und gönnt sich gelegentlich „ein Stück Schokolade oder ein Glas Wein.“ In seiner Küche nutzt er manchmal noch den geschickten Kompromiss auf dem Weg zu rigoroser Konsequenz. Weil Kartoffeln nicht gehen, ersetzt er sie durch Zwiebeln. Zwiebeln würden sich sowieso prima eignen, verrät er einen weiteren Trick. „Geschmort, gemixt und mit einem Eigelb vermengt verleihen sie Saucen eine perfekte Konsistenz“. Die gute alte Butter könne man sich getrost sparen. Andersen richtet für seine Gäste wunderbaren Saibling an, nimmt für das Risotto einen Butternut Kürbis, viele Flusskrebse und nennt seine Sauce „Heulandaise“, weil er sie mit Heuextrakt aufschlägt. Dass klingt und schmeckt alles andere als antiquiert.
Am kompliziertesten sei das mit dem Dessert, das doch alle gerne süß erwarten. Die nordischen Naturküche „versucht ohnehin eine schöne Balance zwischen süß und sauer am Gaumen herstellen“, freut sich Thomas Andersen. Das mache es ihm einfacher, aber „ganz ohne Zucker arbeiten wir noch nicht“. Ein paar kleine Kristalle stecken im „Mousse und Sorbet von Kokosnuss und Limette“. Der Koch stellt sich das kulinarische Erlebnis im „Kong Hans“ als steinzeitinspirierten Genuss mit ein bisschen Sünde vor. „Ein Glas großer Wein“.
Steinzeitkost gibt es nicht nur im Szenelokal oder Spitzenrestaurant Seinen Weg zu Fleisch und Früchten beschreibt Nico Richter im Buch „Paleo – Power for life“. Richter verdient sein Geld in der virtuellen Internetwelt und steht nun täglich bis zu drei Stunden in seiner Küche. „Ich habe es Paleo zu verdanken“, schreibt der 29jährige, „dass aus mir als einstigem Kochmuffel ein begeisterter Hobbykoch wurde“. Paleo bedeutet für ihn keine Entbehrung, sondern vor allem Genuss.
Der Amateur kauft so ein, wie es Spitzenköche gerne erzählen. Regional, saisonal, nichts aus Massentierhaltung.
Sein Frühstück beginnt mit einem Smoothies aus Salat oder einem Früchtemüsli mit Nüssen und einem Ei. Suche man sich zu Mittag die richtigen Paleo Rezepte, wie Karottensuppe, Kürbis-Auflauf mit Hühnchen oder eine Kohlrabi-Hackfleischpfanne, schreibt Richter, „sind Nachmittags-Müdigkeit und Koffein-Sucht ein Thema von Gestern.“ Der fast 30jährige überrascht mit selbstkreierten Gerichten wie einem Burger, der statt zwischen zwei pappigen Brötchenhälften zwischen saftigen, gegrillten Ananasscheiben liegt.