Es gibt zwei große Kräuterbitter in Italien. Averna und Ramazotti. Beide beruhen auf alten Rezepten aus dem 19. Jahrhundert und werden als Amaro bezeichnet. Während Ramazotti längst einem Industrieunternehmen angehört, ist Averna noch immer in Familienbesitz und der ganze Stolz der Avernas. Die genaue Rezeptur kennen derzeit nur vier Familienmitglieder. Wir haben sie in Caltanissetta im Landesinneren Siziliens besucht.
Autor Sabine Ruhland, Fotos ©Foodhunter
Dieser Kräuterbitter sei magisch, sagt Italiens berühmtestes Bartender Michele di Carlo. Weil seine Inhaltsstoffe rein und natürlich seien und sich perfekt mit weiteren natürlichen Zutaten wie beispielsweise Orangensaft, Limette, Ingwer, Lavendel, Salbei, Thymian oder Minze verbinden. Da Averna weit über 40 Ingredienzien besitzt, manche munkeln es seien rund 60, kann der italienische Genuss-Experte seiner Experimentierfreude freien Lauf lassen. Dank neuartiger Mixturen hat er dem verkannten Kräuterbitter ein modernes Image verpasst.
Nach den Vorgaben des Cocktail-Meisters bekommen wir ihn auch in Caltanissetta, der Wiege des Averna, persönlich zubereitet von Maria Luisa Averna, eleganter Grand Dame des Hauses. „Wenn bei uns in der Familie ein Baby geboren wird, träufeln wir ihm einen winzigen Tropfen Averna auf die Lippen. Es soll wissen, welches Elixier sein Leben prägt.“ – Und es vielleicht zum Stillschweigen anregen denn keiner der Avernas rückt auch nur mit einer Silbe heraus wie viele Zutaten genau drin sind oder gar welche. Francesco Rosario Averna verrät zumindest so viel: „Wurzeln, Rinden, viele Kräuter, Fruchtschalen. Aus allen Teilen der Welt.“
In der Produktionsstätte, der einstigen Sommerresidenz der Familie und Ursprungsort dieses Amaro, treffen wir Marilena. Sie kennt sämtliche Zutaten, denn ihr unterliegt die Kontrolle der angelieferten Grundstoffe. Einen Blick auf die getrockneten Orangenschalen erhaschen wir, ansonsten viel „Grünzeug“, ebenfalls getrocknet. Nein, sie könne uns nicht sagen, was alles im Averna steckt meint sie.
„Deshalb arbeiten wir so gerne mit Frauen. Die können besser ein Geheimnis bewahren als Männer“, lächelt Francesco Rosario Averna. Nichts desto trotz könnte Marilena allenfalls die Zutaten verraten, aber nicht die genaue Zusammensetzung.
Nachdem die Rohstoffe kontrolliert wurden, werden sie kleingeschnitten und mit Mörsern zermahlen. Die unverändert nach dem Originalrezept zusammengestellte Mischung ruht 30 bis 40 Tage in reinem Alkohol, wird mehrmals gefiltert und mit einem Gemisch aus Karamell, Zuckersirup und gebranntem Zucker angereichert. Bis heute erfolgen wesentliche Herstellungsschritte in Handarbeit. Nach einer Lagerzeit von zwei Monaten ist der Kräuterbitter ausgereift und wird gefiltert.
Damit der Geschmack immer seine konstante Wiedererkennung behält, werden stets neue mit älteren Produktionen vermengt. Es entsteht eine Cuvée, die vor der Abfüllung in die Flasche noch einmal 40 bis 50 Tage im Keller gelagert wird. Auch hier ist die Zeit entscheidend – und das Urteil der Familie. Erst, wenn die vier Oberhäupter der Avernas sicher sind, dass sich die Zutaten mit dem Alkohol in Harmonie auf der Zunge vereint haben, werden die Tanks geöffnet.
Der Stolz auf die lange Geschichte des Averna ist allen Familienmitgliedern anzumerken und die tiefe Verbundenheit zu dem nahe liegenden Kloster in dem vor rund 150 Jahren alles begann. „Hier haben wir unsere Wurzeln. Nirgendwo könnten wir den Amaro besser produzieren.” 1854 schenkte der Benediktinermönch Fra’ Girolamo seinem Freund Salvatore Averna die geheime Rezeptur für den gesundheitsfördernden Likör, den Amaro. Salvatore stellt den Amaro Averna zunächst für Freunde und Bekannte her, sein Sohn Francesco macht ihn rund 27 Jahre später in der Öffentlichkeit bekannt, holte Ende des 19. und Anfang des 20 Jahrhunderts auf allen Weltausstellungen Auszeichnungen.
Heute gehört Averna zu den beliebtesten Kräuterlikören weltweit. Dank des Botschafters Michele di Carlo wird sich das künftig verstärken. Der gießt Averna eisgekühlt über Milcheis und erhebt ihn damit zum Dessert oder serviert ihn süß als ‘Amaro Dolce’ mit Orangenlikör, Sirup und Espresso.
„Nichts Kompliziertes“, sagt er, „dafür mit Zutaten, die man oft nicht erwartet und die das Produkt komplett verändern ohne seine Geschmack zu verfälschen.“ Mit seinen Cocktailideen hat er zahllose Barkeeper animiert, mehr aus dieser magischen Essenz zu zaubern. – Der Sommer wird italienisch!